Urteilsverkündigung des Bundesverfassungsgerichts am 05.05.2020 in Sachen Verfassungswidrigkeit des EZB-Staatsanleihenankaufs
Das Urteil des 2. Senats (7 Ja-Stimmen, 1 Nein-Stimme)
- Das Anleihekaufprogramm der Europäischen Zentralbank zur Stützung des Europäischen Währungssystems mit dem Schwerpunkt des Ankaufs von Staatsanleihen (Stand 2,1 Billionen Euro), das „Public Sector Purchase Programme“ (PSPP), ist zum Teil nicht verfassungskonform.
- Der Verstoß gegen das Grundgesetz wird in der Tatsache gesehen, dass die Bundesregierung und der Bundestag die EZB-Beschlüsse zum Staatsanleihekauf nicht geprüft hätten. Damit wird den Beschwerdeführern zum Teil Recht gegeben (siehe unten). Der Schlüsselsatz im Urteil des 2. Senats lautet: „Danach haben Bundesregierung und Deutscher Bundestag die Beschwerdeführer in ihrem Recht … verletzt, indem sie es unterlassen haben, dagegen vorzugehen, dass die Europäische Zentralbank (EZB) in den für die Einführung und Durchführung des PSPP erlassenen Beschlüssen weder geprüft noch dargelegt hat, dass die hierbei getroffenen Maßnahmen verhältnismäßig sind.“
- Die Entscheidung steht im Widerspruch zum Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 11.12.2018. Dieses hatte die Ankaufprogramme für rechtens erklärt.
- Der Präsident des BVerG, Andreas Voßkuhle, verweist auf das Neue bei diesem Urteil innerhalb der EU hin. Ein Bundesverfassungsgericht stellt fest, dass gemeinschaftliche Handlungen und Entscheidungen – hier der EZB – nicht von der europäischen Kompetenzordnung gedeckt seien. Deshalb könnten sie in Deutschland keine Wirksamkeit entfalten. Klar ist die Ansage: In den nächsten drei Monaten müsse sich das ändern, ansonsten dürfe die Deutsche Bundesbank nicht mehr an den Ankaufgeschäften der EZB beteiligt werden (Anteil der deutschen Bundesbank am Gesamtprogramm 26%).
- Wichtig ist also, der zweite Senat stellt grundsätzlich kein verfassungsrechtliches Verbot des Ankaufs von Staatsanleihen auf den Sekundärmärkten durch die EZB fest. Die Verfassungswidrigkeit zeige sich vielmehr im tatenlosen Zusehen. Kritisiert wird also die unzureichende Informierung über geldpolitische Maßnahmen, die die deutsche Finanzpolitik im Bereich der Staatsverschuldung betreffen. Im Urteil heißt es: „Bundesregierung und Deutscher Bundestag sind aufgrund ihrer Integrationsverantwortung verpflichtet, der bisherigen Handhabung der PSPP entgegenzutreten“. Zwar wird die europäische Rechtsgemeinschaft anerkannt, jedoch das Recht als festes gemeinsames Fundament“ bei der Krisenbewältigung eingefordert.
- Hervorzuheben ist, dass das im März 2020 durch die EZB beschlossene Pandemie-Notprogramm mit 750 Mrd. Euro bis zum Jahresende nicht berücksichtigt worden ist (siehe unten).
- Die Europäische Zentralbank hat angekündigt, dass sie grundsätzlich ohne Rücksicht auf das Urteil aus Karlsruhe den Kurs ihrer expansiven Geldpolitik fortsetzen will. Sicherlich wird sie mit einer Armada an geldpolitischen Sachverständigen der Aufforderung zur intensiven Aufklärung über ihre massiven Ankäufe von Staatsanleihen nachkommen. Dabei wäre es wichtig, auch den zweiten Senat des BVerG in die geldtheoretische Aufklärungsarbeit einzubeziehen. Das zeigt die Schlüsselaussage seines Vorsitzenden Voßkuhle: Die EZB habe ihre Kompetenzen überschritten, denn das Aufkaufprogramm zeige „erhebliche Auswirkungen auf nahezu alle Bürgerinnen und Bürger, die als Aktionäre, Mieter, Eigentümer von Immobilien, Sparer und Versicherungsnehmer betroffen sind.“ Das erinnert eher an die Verbreitung populistischer Vorurteile von den „Sparern als Opfer der EZB“. Dabei sinken die Zinssätze etwa auf Bundesanleihen seit der Expansion des finanzmarktgetriebenen Kapitalismus Mitte der 1980er Jahre infolge der Überakkumulation und des Übersparens. Die durch die Finanzmärkte getriebene EZB hat schon längst die Macht verloren, Zinssätze auch auf Spareinlagen erfolgreich durchzusetzen.
Fazit
Dieses Urteil schwächt die Handlungsfähigkeit der EZB, die auch gegenüber den Spekulations- und Schockwellen schnell reagieren muss. Die stärkere Beteiligung der parlamentarisch-demokratischen nationalen Entscheidungsorgane lässt sich jedoch durchaus im Sinne dieses Urteils herstellen. Schließlich ist auch aus dem Urteil eine Kritik an der bisherigen Fiskalpolitik herauszulesen. Bisher hat der Verzicht auf eine aktive Finanzpolitik zugunsten der Schuldenbremsen und Nullverschuldungen den Handlungsdruck auf die Geldpolitik EZB massiv erhöht. Hier zeigt sich, dass die Wirksamkeit der extrem expansiven Geldpolitik durch eine nachhaltige Finanzpolitik mit einem Zukunftsinvestitionsprogramm gestärkt werden muss. Die Dringlichkeit von Stützungs- und Konjunkturprogrammen gegen die Folgen der Corona-Wirtschaftskrise erhöhen den Druck auf staatliches Handeln für die Gesamtwirtschaft.
Jetzt kommt es darauf an, die geldpolitischen Ziele und die daraus abgeleiteten Instrumente der Europäischen Zentralbank mit den verfassungsrechtlichen Anforderungen Deutschlands in Einklang zu bringen.
Zum Hintergrund des Urteils:
Der Ursprung: „What ever it takes…“
Der Rat der Europäischen Zentralbank (EZB) beschließt am 04.03.2015 (geänderte Fassung 11.01.2017) innerhalb des erweiterten Ankaufprogramms „Expanded Purchase Programme (EAPP)“ das gewichtigste Unterprogramm zum Ankauf staatlicher Anleihen der Mitgliedsländer, das Public Sector Purchase Programme (PSPP).
Diese geldpolitische Offensive geht auf die am 26.07 2012 in London durch Mario Draghi angekündete Strategie zurück: „Within our mandate, the ECB is ready to do whatever it takes to preserve the euro. And believe me, it will be enough.“ („Im Rahmen unseres Mandats ist die EZB bereit, alles Notwendige zu tun, um den Euro zu erhalten. Und glauben Sie mir, es wird genug sein.“)
Am 06.09.2012 wurden die Modalitäten der in Aussicht gestellten Outright Monetary Transactions (OMT) (geldpolitische Outright-Geschäfte) durch den EZB-Rat beschlossen. Gegenüber diesen OMT ist das am 22.06.2015 beschlossene, „erweiterte Programm zum Ankauf von Vermögenswerten“ (Expanded Asset-Purchase Programme, EAPP) zu unterscheiden. Im Mittelpunkt dieses EAPP vor allem zur Abwendung von Deflationsrisiken und zur Senkung der Realzinsen steht der Ankauf der Staatsanleihen von Mitgliedsländern durch die EZB allerdings ausschließlich auf den Sekundärmärkten.
Ziel dieses Ankaufprogramms von Staatsanleihen
Begründet wird der Ankauf der auf den Sekundärmärkten gehandelten Staatsanleihen im Eigentum der Banken mit den gewollten Wirkungen: Die Realzinsen senken und durch billige Liquidität für die Banken den Anreiz der Kreditvergabe an Investoren erhöhen. Im Mittelpunkt steht die Bekämpfung der Deflation und damit die Erhöhung der Inflationsrate in Richtung des Ziels „unter, unter, aber nahe 2%“.
Verfassungsklage vor dem Bundesverfassungsgericht (BVerG)
Zu den Klägern gehören radikale Gegner des Euro-Systems wie Bernd Lucke, Peter Gauweiler und Hans-Olaf Henkel. Ihrer Auffassung nach sind wegen Art 123 AEUV die bisherigen Ankäufe von Staatsanleihen verfassungswidrig, denn es handle sich um eine Finanzierung der Staatsschulden durch die EZB (geldpolitische Staatsfinanzierung).
Ablauf:
- Nach einer Anhörung hält das BVerG im Urteil vom 18.07.2017 fest:
- Die Kläger erhalten Recht. Der EZB-Ankauf jeglicher Art von Staatsanleihen ist auch bezogen auf das Grundgesetz verfassungswidrig.
- Allerdings wird wegen EU-rechtlicher Grundfragen die Entscheidung zur „Vorabentscheidung dem EUGH“ vorgelegt.
- Der EUGH stellt mit seinem Urteil vom 11.12.2018 gegen das BVerG die Verfassungskonformität der Käufe von Staatsanleihen durch die EZB im Rahmen Art. 123 AEUV fest. In diesem Urteil wird betont, dass die durch die EZB vorgegebenen Ziele durchaus erreicht worden seien. Vor allem wird die gelungene Stabilisierung des Eurosystems hervorgehoben. Damit habe die EZB ihren geldpolitischen Auftrag erfüllt.
- Am Dienstag, dem 05.05.2020, hat das BVerG die oben bewertete Entscheidung getroffen.
Hinweis zum bisherigen Verhalten die EZB
Bisher hat sich die EZB hat durch den Verfassungsstreit nicht aufhalten lassen und ihre Ankaufaktivitäten ausgeweitet.
- In der EZB-Bilanz belief sich im März 2020 der Gesamtbestand gekaufter Staatsanleihen (PPBS) auf knapp 2,136 Billionen Euro. Dagegen fallen die Ankäufe von gedeckten Schuldverschreibungen, von Asset-Backed-Securities und Unternehmensanleihen im Gesamtankaufprogramm (EAAP) deutlich geringer aus. Insgesamt werden seit November 2019 wieder monatlich pro Monat 20 Mrd. Euro für Ankäufe durch die EZB ausgegeben.
- Mit dem Mitte März beschlossenen Pandemie-Notfallankaufprogramm (Pandemic Emergency Purchase Programme – PEPP) wird ein Zusatzvolumen für den Ankauf von staatlichen Wertpapieren im Umfang von 750 Mrd. Euro hinzugefügt. Das gilt solange, bis „die Phase der Coronavirus-/COVID-19-Krise überstanden ist, keinesfalls jedoch vor Jahresende bis Ende 2020“. Damit werden zusätzlich in großem Umfang auch Staatsanleihen aufgekauft. Übrigens sind bei diesem Programm erstmals wieder griechische Staatsanleihen durch die EZB dezentral kaufbar. Die Verteilung auf die einzelnen Länder erfolgt allerdings nach dem jeweiligen Kapitalschlüssel der nationalen Zentralbanken.